Das Gottesbild im Alten und im Neuen Testament

1. Die Gültigkeit des AT zur Zeit des NT und heute

A) Die Bibel besteht aus insgesamt 1189 Kapiteln. 929 davon gehören zum Alten Testament (AT), 260 zum Neuen Testament (NT), d.h. etwa 78% der Bibel gehören zum AT. Ich wage deshalb die Frage zu stellen: Sollte sich Gott soviel Mühe machen, rund 3/4 der Bibel schreiben zu lassen, nur um sie nach 1500 Jahren (Mose) bzw. 350 Jahren (Maleachi) wieder für ungültig zu erklären? Ist dies nicht ein bisschen viel Aufwand für fast nichts? Ich meine, in aller Ehrfurcht gesagt, so ist Gott nicht. Die Naturwissenschaftler stellen in der Schöpfung mit Erstaunen fest, wie überaus effizient Gott gearbeitet hat. Sollte er dies bei etwas so Wichtigem wie der schriftlichen Mitteilung seines Willens plötzlich nicht mehr tun?

B) 10% des NT sind entweder direkte oder indirekte Zitate aus dem AT, die alle wichtigen Ereignisse und Aussagen des AT bestätigen oder zur neutestamentlichen Diskussionsgrundlage machen. Hätte das AT also heute keine Gültigkeit mehr, so müsste auch ein beträchtlicher Teil des NT als ungültig angesehen werden.

C) Die Bibel selber gibt klare Auskunft darüber, wie es um die Gültigkeit des AT steht:
a) 2.Tim.3,16f: „Jedes Schriftwort, von Gott eingegeben, dient aber auch zur Lehre, zum Überführen der Schuldigen, zur Besserung und zur Erziehung in der Gerechtigkeit. So wird der Mensch Gottes vollkommen und zu jedem guten Werk fähig.“ Wenn Paulus von der Schrift spricht, so meint er in allererster Linie das AT, denn das NT gab es zu seiner Zeit erst in Form von einigen voneinander unabhängigen Einzelschriften, aber nicht als Sammlung, und einige der Bücher des NT waren noch gar nicht geschrieben. Das AT dient also zu alledem, was Paulus hier beschreibt. Wenn es aber dazu dienen soll, muss es auch gültig sein.

b) Jesus selber bezieht sich dauernd auf das AT. Den Emmausjüngern (Lk.24,13ff) erklärt er nach der Auferstehung seine ganze Leidensgeschichte aufgrund des AT (V.26f). Glaube an Jesus ohne Glauben an das AT kann es also gar nicht geben.

c) Wenn ein Toter zurückkehren würde um die Menschen zu evangelisieren, so hätte das genauso viel oder genauso wenig Wirkung, wie wenn die Menschen dem glauben würden, was Mose in seinen Büchern geschrieben hat (sh. das Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus; Lk.16,31).

d) Die klarste Aussage Jesu ist in Mt.5,17-19 zu finden. Diese Stelle macht unter anderem folgende Aussagen: 1. Jesus löst "das Gesetz und die Propheten" (= jüdischer Ausdruck für das ganze AT) nicht auf. Haben wir dann das Recht dazu, wenn es nicht einmal der Sohn Gottes selber tut? 2. Jesus erfüllt hingegen das AT. 3. Jesus bestätigt, dass nicht ein „Strichlein“ (gemeint ist der kleinste Buchstabe im hebräischen Alphabet) vom AT ungültig wird, solange diese Erde besteht. 4. Wer als Gläubiger trotzdem die Ungültigkeit nur eines einzigen Gebotes des AT lehrt, wird zwar immer noch gerettet werden, wird aber im Himmelreich deswegen eine schlechte Position bekommen.

Es muss also daran festgehalten werden, dass das ganze AT in seiner wörtlichen Bedeutung in seiner Gültigkeit nie aufgehoben wurde und nie aufgehoben werden wird, solange diese Erde besteht.

2. Das Zueinander von AT und NT

Von den insgesamt 66 Büchern der Bibel gehören 39 Bücher, bzw. 23214 Verse zum AT, 27 Bücher, bzw. 7961 Verse zum NT. Das AT macht also rund 3/4 und das NT 1/4 des Umfangs der ganzen Bibel aus. Weshalb ist das AT so viel grösser als das NT, bzw. das NT so viel kleiner als das AT?

a) Das AT umfasst erstens einen Zeitraum von mindestens 4000 Jahren, das NT einen von knapp 100 Jahren.

b) Zweitens legt das AT viele Grundlagen und das NT bringt nur noch (sehr wichtige) Ergänzungen dazu. Wie aktuell das AT auch zur Zeit des NT und darüber hinaus ist, zeigt sich nur schon daran, dass rund 10% des NT aus direkten alttestamentlichen Zitaten oder Anspielungen auf alttestamentliche Inhalte besteht.

Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede von AT und NT besser zu verstehen, müssen wir einen Blick werfen auf die sog. „Heilsgeschichte“, also die geschichtliche Entwicklung des Rettungsplanes (Heilsplanes) Gottes für diese Erde und die Menschen auf ihr, die sich beim Sündenfall von Gott losgesagt haben. Dieser Plan, den Gott in seiner Souveränität nach seinem Gutdünken entworfen hat, sieht grob skizziert so aus:

1. Schöpfung: Gott erschafft das Universum, die Erde und die Menschen als sein Gegenüber;
2. Sündenfall: Die Menschen sind Gott ungehorsam, es gibt eine Trennung in der Beziehung Gott-Mensch;
3. Sintflut und Arche Noah: Die Gottlosigkeit der Menschen erreicht einen Höhepunkt, sodass Gott die ganze Menschheit zur Strafe vernichtet. Nur Noah und seine Familie werden gerettet. Sie sind die Urahnen aller heute lebenden Menschen.
4. Das Volk Israel: Mit der Berufung Abrahams beginnt die Spezialstellung des Volkes Israel innerhalb der Völker dieser Erde. Unter Mose und Josua bildet sich das Volk Israel (= die Nachkommen Abrahams) als eigenständige Grösse.
5. Der Stamm Juda: Innerhalb Israels sucht sich Gott den Stamm Juda speziell aus.
6. David: Innerhalb des Stammes Juda werden der König David und seine Nachkommen von Gott speziell auserwählt.
7. Jesus: Gott schickt seinen eigenen Sohn zur Erde, um durch dessen stellvertretenden Tod am Kreuz zur Vergebung der Sünden der ganzen Menschheit die Möglichkeit zum Heil anzubieten. Jesus ist durch seinen Vater Josef ein rechtlicher und durch seine Mutter Maria ein leiblicher Nachkomme Davids (Mt.1 Stammbaum Josefs Luk.3: Stammbaum Jesu bzw. seiner Mutter).
[Ende des AT -> Beginn des NT]
8. Zeit der christlichen Gemeinde (ab Apg.2 bis zum Beginn von Nr.9):
a) Judenchristen: In der Zeit nach Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Jesu und Pfingsten bekehren sich zuerst Juden zu Jesus, dem Erlöser.
b) Heidenchristen: Schon sehr bald darauf entscheiden sich auch Menschen aus den heidnischen Völkern (Griechen, Römer, Asiaten, Europäer, Afrikaner, etc.) für Jesus.
9. Endzeit: Gegen das Ende unserer Zeitgeschichte hin werden sich aus allen Nationen Menschen dem Rettungsangebot Jesu angeschlossen haben.
10. Tausendjähriges Reich: Jesus kommt auf die Erde zurück und richtet für 1000 Jahre seine Friedensherrschaft auf dieser Erde auf, zusammen mit den an ihn Glaubenden.
11. Jüngstes Gericht: Gott macht seiner Schöpfung ein Ende und richtet alle Menschen: die an Jesus Christus Glaubenden kommen zu Gott, die Ungläubigen gehen in die Hölle.
12. Neuschöpfung: Gott erschafft eine neue Erde, wo es keine Sünde mehr gibt und die Gläubigen in ungetrübter Gemeinschaft mit ihm leben werden.

Weshalb Gott sich entschieden hat, so und nicht anders vorzugehen, können wir als Menschen nicht erklären. Wir können nur feststellen, dass es so ist und es akzeptieren. Gott ist viel grösser als wir und souverän. Er braucht sich nicht vor uns zu rechtfertigen.

Wenn wir den heilsgeschichtlichen Verlauf ansehen, fällt natürlich auf, dass sich Gott im AT vor allem auf das Volk Israel konzentriert, ohne dabei aber die andern Völker aus den Augen zu verlieren. Gott hatte immer die ganze Menschheit im Blickfeld, auch als er sich Israel auserwählte, um beispielhaft an ihm seinen Charakter, seine Heiligkeit zu zeigen und seine Gebote zu offenbaren. Israel wurde erwählt, um den Retter der ganzen Menschheit hervorzubringen. Als der Retter dann erschienen war, konnte Gott sein Heilshandeln auf die ganze Menschheit ausdehnen. Weshalb Gott damit so lange gewartet hat, kann man nicht sagen; es heisst in Gal.4,4 nur, dass Gott seinen Sohn sandte, "als die Zeit (der günstige Zeitpunkt) erfüllt war". Aber auch in diesen 2000 Jahren seit Christi Geburt gibt es wieder ein auserwähltes Volk. Es ist nicht mehr einfach Israel, sondern alle Menschen, die an Jesus Christus glauben, seien es ursprünglich Juden oder ursprünglich Heiden (sh. Röm. 9-11).

Gott hat es offenbar für richtig befunden, uns Menschen nicht von Anfang an alles von seinem Heilsplan auf einmal zu offenbaren. Er hat es vorgezogen, uns diese Offenbarung schrittweise zu enthüllen. Wir müssen uns dabei bewusst sein, dass es eine kontinuierliche Fortsetzung der Offenbarung innerhalb der ganzen Bibel ist. Die Offenbarungen Gottes im NT korrigieren also nichts von dem, was im AT gesagt wurde, sie bringen auch kein völlig neues oder völlig anderes Bild von Gott und der Heilsgeschichte. Das NT bringt lediglich notwendige Ergänzungen, Verdeutlichungen, Klarstellungen. Das Neue Testament ist eigentlich ein „Erneuertes“ oder auch ein „Erweitertes Testament“. Manchmal wird heutzutage auch vom „Ersten“ und „Zweiten Testament“ gesprochen, statt vom Alten und vom Neuen.

Exkurs: Der Heilsweg in der Bibel und die Vergabe des Heiligen Geistes

Was im AT von Anfang eigentlich klar war, nämlich dass der Mensch wegen seines Glaubens an Gott gerettet wird (1.Mose 15,6; Gal.3), und nicht wegen der Gesetzeseinhaltung oder sonst etwas, das wird im NT noch viel klarer und präziser dargestellt.
Dieser Gedanke muss noch etwas genauer erklärt werden: Bereits das AT verstand die äusserliche Einhaltung des Gesetzes nicht als den Weg zum Heil (diese äusserliche Einhaltung des Gesetzes ist es ja gerade, die Jesus an den Pharisäern kritisiert). Der Weg zum Heil ist auch schon im AT die Liebe und der Glaube in Verbindung mit dem Gehorsam, also die richtige innere Einstellung bei der äusseren Handlung. Zentral ist hier die Stelle 1.Mose 15,6: „Abram glaubte dem Herrn, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit“. Diese Zusage kam noch vor der Einführung der Beschneidung (1.Mose 17) und des Gesetzes überhaupt (ab 2.Mose 20). Diesen Sachverhalt bestätigen u.a. 5.Mose 6,4f + 3.Mose 19,18; Habakuk 2,4; Matth.22,36-40; Apg.13,37-39; Röm.1,16f; 2,13; 3,20-26; 4,1-25; 8,3f; Hebr.7,17-19.

Röm.2,11-4,25 und Gal.3,1-5,12 legen ganz deutlich dar, dass Jesus durch seinen Tod am Kreuz das atl. Gesetz erfüllt hat und nicht etwa abgelöst oder ersetzt. Damit war die Bahn frei für den eigentlichen Weg zur Erlösung, den gehorsamen, vertrauensvollen Glauben. Das Gesetz mit seinen Tieropfern war nur eine Zwischenlösung bis zur Erlösungstat Jesu am Kreuz.

Jesu Opfer am Kreuz ist sogar die Legitimation für alle Tieropfer des AT. Jesu Kreuzestod ist wie die Unterschrift unter einen Check (= atl. Tieropfer), die den Check erst einlösbar (= wirksam) machen. Die atl. Opfer zur Sündenvergebung waren eine Vorausnahme von Jesu Opfer und hatten nur durch dieses ihre Wirkung: Hebr.9,1-10,18!

Aus dem oben Gesagten folgt, dass es auch keinen Widerspruch zwischen dem Gesetz (aus dem AT) und dem Evangelium (aus dem NT) gibt, was leider immer wieder behauptet wird. Natürlich sind Gesetz und Evangelium ein Widerspruch, wenn es um den Heilsweg geht, also darum, wie ein Mensch gerettet werden kann; sie sind es aber nicht, wenn es um den Inhalt der beiden geht. Inhaltlich entsprechen sie sich. Es zeigt sich, dass das Einhalten der Gebote/des Gesetzes der praktische Inhalt der Nächstenliebe ist. Liebe üben und das Gesetz einhalten sind keine Gegensätze, sondern wie Rahmen und konkreter Inhalt. Das Gesetz zeigt mir, wie die (Nächsten-) Liebe ganz praktisch aussehen soll.

Während im AT der Heilige Geist den Menschen normalerweise nur für eine bestimmte Aufgabe als Dienstbefähigung verliehen wurde, erhalten ihn die Gläubigen im NT und heute nicht nur zur Dienstbefähigung. Sie werden vielmehr ihr Leben lang mit dem Heiligen Geist versiegelt und erfüllt. Er ist die Anzahlung auf ihr Ewiges Leben (Eph.1,13-14).

Anmerkung: Von der Büchereinteilung her beginnt das NT mit der Geburt Jesu, heilsgeschichtlich betrachtet beginnt das Zeitalter des NT aber erst in Apostelgeschichte 2 mit Pfingsten. Genau genommen gehört Jesus selber heilsgeschichtlich also noch zum Zeitalter des AT. Erst nach seinem Tod und seiner Auferstehung, also erst nach Vollendung seines Erlösungswerkes, konnte mit Pfingsten (der Ausgiessung des Heiligen Geistes) wirklich ein neues Zeitalter beginnen.

Es gibt viel mehr Gemeinsamkeiten zwischen AT und NT als Unterschiede. Leider haben die Theologen und damit auch die Pfarrer in der Vergangenheit, v.a. auch im Zeitalter der Aufklärung und des Humanismus, hauptsächlich die Unterschiede betont, oft unrechtmässig überbetont. Die vielen Gemeinsamkeiten wurden bewusst oder unbewusst ausgeblendet. Heute kommt man zum Glück wieder vermehrt auf das AT und seine wahre Bedeutung zurück. Wer sich intensiv mit dem AT beschäftigt, merkt, dass es ganz anders ist als die vielen Vorurteile, die es darüber gibt.

3. Das Gottesbild im AT und NT:
Ein vergeltender Gott - ein verzeihender Gott?
Ein brutaler Gott - ein lieber Gott?

Wenn wir uns der Frage nähern, ob das Gottesbild im AT ein anderes sei als im NT, so ist zuerst einmal zu bedenken, dass wir uns als Menschen eben immer nur unvollständige Bilder von Gott machen können. Wir erkennen nie Gott selber, sondern nur das, was er uns von sich geoffenbart hat - und zwar durch die Brille unserer Persönlichkeit, unserer Kultur, unseres Wissensstandes. Unsere Gottesvorstellungen bleiben deshalb bruchstückhaft, nicht vollständig, nicht völlig zuverlässig.

A) Gott ist immer derselbe. Er verändert sich nicht. Dies zeigen etwa folgende Stellen: Jakobus 1,17: „bei Gott ist keine Veränderung“; Maleachi 3,6: „Nein, ich, der Herr, habe mich nicht geändert“; Hebr.13,8: „Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit“. Diese Aussage steht generell und prinzipiell über allen weiteren Ausführungen: Gott ist und bleibt von seinem Charakter her, in seinem Wesen der Gleiche, im AT, im NT und heute. Dies gilt es zu beachten; dies heisst aber gleichzeitig nicht, dass er deswegen zu verschiedenen Zeiten und Anlässen gegen aussen, gegenüber seiner Schöpfung, nicht verschieden handeln könnte.

B) Wir müssen eine Engführung unseres Gottesbildes durchbrechen. Gott wird heutzutage hauptsächlich als ein Gott der Liebe charakterisiert. Gott ist Liebe, sonst fast nichts. Der Gott, wie er sich in der Bibel selber offenbart, hat noch viel mehr gewichtige Eigenschaften als ihm die ‚liberale Theologie’ gegeben hat. In unserem Zusammenhang ist es besonders wichtig zu sehen, dass Gott auch ein Gott der Gerechtigkeit ist, ein heiliger Gott. Ein Gott, der zwar die Menschen aus tiefstem Herzen liebt, aber auch die Sünde der Menschen aus tiefstem Herzen hasst. Wenn wir Gottes Umgang mit den Menschen im AT und im NT miteinander vergleichen, müssen wir beide Eigenschaften, beide Charakterzüge Gottes bedenken, seine Liebe und seinen heiligen Gerechtigkeitssinn. Dieser Gerechtigkeitssinn Gottes erfordert, dass er die Sünde, also den Ungehorsam des Menschen den göttlichen Geboten gegenüber, bestraft, weil das heilige Wesen Gottes keine Sünde in seiner Nähe dulden und der sündige Mensch nicht in der Gemeinschaft mit dem sündlosen Gott existieren kann.

C) Tatsächlich scheint es mir so zu sein, dass sich Gott im Bereich der Liebe im AT und im NT genau gleich verhält, im Bereich der Gerechtigkeit im NT aber eine Änderung im Verhalten (nicht im Wesen) Gottes zu entdecken ist (sh. F).

D) Stellen im AT, die ausdrücklich und eindrücklich von Gottes Liebe reden, sind zum Beispiel:
- 5.Mose 7,7: „Nicht weil ihr mehr wäret als alle Völker, hat der Herr sich euch zugeneigt und euch erwählt - ihr seid ja das geringste unter allen Völkern -, sondern wegen der Liebe des Herrn zu euch.“
- 5.Mose 33,3: „Ja, der Herr liebt sein Volk.“
- 1.Kön.10,9: „Weil der Herr Israel ewig liebt,...“
- Jes.43,4: „Weil du teuer bist in meinen Augen und wertvoll und ich dich lieb habe,...“
- Jes.49,14-16: „Zion sagt: Verlassen hat mich der Herr, der Herr hat mich vergessen. Vergisst etwa eine Frau ihren Säugling, dass sie sich nicht erbarmt über den Sohn ihres Leibes? Sollten selbst diese vergessen, ich werde dich niemals vergessen. Siehe, in meine beiden Handflächen habe ich dich gezeichnet.“
- Jer.31,3: „Ja, mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir meine Güte bewahrt.“
- Daneben scheinen mir hier auch die zahlreichen Stellen, die vom Segen Gottes reden, erwähnenswert, denn Segen ist per Definition praktisch und konkret erfahrene Liebe.

Auf eine Anführung von ntl. Stellen, die von der Liebe Gottes reden, kann verzichtet werden, weil diese viel bekannter sind.

E) Wie sieht es nun bei der Gerechtigkeit Gottes aus? Auch hier gilt es noch einmal festzuhalten, dass sich der Massstab der Gerechtigkeit Gottes im Laufe der Zeit nie verändert hat und nie verändern wird. Geändert hat sich aber im NT gegenüber dem AT die Art und Weise, wie Gott seinem Gerechtigkeitsempfinden Genüge verschafft. Generell gilt: Wer Gottes Gebote übertritt, wird dafür mit dem Tod bestraft (Röm.6,23a): „Der Lohn der Sünde ist der Tod“. Als Prinzip gilt also, dass es zur Sündenvergebung Blut braucht: "Ohne Blutvergiessen gibt es keine Vergebung" (Hebr.9,22). Weil Gott aber keinen Gefallen hat am Tod des Menschen (Hesekiel 18,23: „Sollte ich wirklich Gefallen haben am Tod des Gottlosen, spricht der Herr, und nicht vielmehr daran, dass er von seinen Wegen umkehrt und lebt?“), darum schafft er zur nötigen Bestrafung die Möglichkeit des stellvertretenden Todes. Im AT war dies das Tieropfer: Der Israelit, der eine Sünde begangen hatte, opferte stellvertretend für sich ein Tier. Seit Jesu Tod am Kreuz ist es die Bitte um Vergebung, die im Glauben an den Sohn Gottes gerichtet wird, der stellvertretend für uns am Kreuz starb.

F) Während im AT für jede neue Sünde ein neues Tier geopfert werden musste (für jede Einzeltat ein Einzelopfer), ist das Sterben Jesu ein Generalopfer für alle Sünde, die je auf dieser Erde getan wurde und noch getan werden wird. Wir sehen dies in Jes.53,4-12 und vielen anderen Stellen.

Dieser Umstand könnte etwas Klärung bringen für eine häufig erwähnte Ungleichheit zwischen AT und NT, nämlich den behaupteten Umstand, dass Gott im AT die Menschen viel häufiger und direkter körperlich oder gar mit dem Tod strafe als im NT.
Ich kann mir tatsächlich vorstellen, dass seit diesem Generalopfer von Jesus die Menschen, egal ob Christen oder nicht, in dem Sinne mehr unter der Gnade Gottes stehen, dass er sie weniger sofort und direkt bestraft und die Bestrafung stattdessen grösstenteils auf das Jüngste Gericht "verschiebt".
Dass dies aber auch nicht generell gilt, sehen wir in Apg.5, wo die Christen Hananias und Saphira für ihren Geldbetrug an der Gemeinde von Gott mit dem sofortigen Tod bestraft werden.

Es ist also sehr wohl möglich, dass sich da im Verhalten Gottes eine Änderung ergeben hat. Allerdings ist diese Veränderung nicht so gross, wie man sich meistens vorstellt.

G) Es folgen hier noch einige Bemerkungen zur Situation im AT, die das Bild eines zornigen, dauernd strafenden Gottes im AT stark verblassen lassen:

a) Die Anzahl der Stellen, in denen Gott jemanden direkt und körperlich für seinen Ungehorsam bestraft, oder dem Volk Israel den Auftrag gibt, ein feindliches Volk zu bestrafen, oder durch eine Naturkatastrophe Menschen umkommen lässt, ist kleiner als man meistens meint. Dies deshalb, weil einige Berichte mehrmals erwähnt werden (in den Mosebüchern, weil das 5.Buch eine Wiederholung der Bücher 2-4 ist; in den Parallelberichten der Geschichtsbücher von Samuel/Könige und Chronik; in den Prophetenbüchern, wo von verschiedenen Propheten das gleiche Gericht angekündigt wird).

b) Die Fälle, in denen Gott so dramatisch eingreift, sind die Ausnahmefälle und werden deshalb natürlich speziell erwähnt. Wenn man diese Ereignisse auf die 4000 Jahre verteilt, kommen sie doch relativ selten vor. Das heisst, in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle hat Gott auch im AT die Menschen nicht direkt bestraft. Und da in dieser Mehrzahl von Fällen nichts passiert ist, ist auch nichts aufgeschrieben worden. Den Normalfall, die Nichtbestrafung, finden wir in den Schriften des AT nicht.

c) Wenn wir das AT und das NT miteinander vergleichen, so scheint es mir folgendermassen zu sein: Innerhalb des AT werden in den 5 Büchern Mose die theologischen und glaubensmässigen Grundlagen gelegt. Von Josua bis zum letzten Propheten Maleachi haben wir (nicht nur, aber doch) grösstenteils eine Darstellung der geschichtlichen Entwicklung dieser Grundlagen. Beim NT ist es so, dass das ganze NT die theologischen und glaubensmässigen Grundlagen liefert, und die geschichtliche Entwicklung dazu ist eigentlich unsere zweitausendjährige Kirchen- und Weltgeschichte. Diese 2000 Jahre Geschichte sind überfüllt mit Kriegen, Naturkatastrophen und persönlichen dramatischen Schicksalen. Das Problem ist nun, dass wir im AT jeweils von Gott selber die Ankündigung und Erklärung für seine Strafaktionen bekommen, in unserer Zeit der Geschichte diese Ankündigungen und Erklärungen in den allermeisten Fällen aber fehlen. Wir merken also meistens gar nicht, wenn Gott strafend eingreift (ein Beispiel, das relativ gut als eine solche Strafaktion Gottes angesehen werden kann, ist im 20. Jh. die vierzig Jahre dauernde Trennung Deutschlands in Ost und West für den Holocaust, die Judenvernichtungen während des 2. Weltkrieges). Gott hat sich nicht geändert, nur wissen wir heute viel weniger als zur Zeit des AT, wo er es jeweils selber gesagt hat, wann er konkret eingreift. Gott war also damals nicht rachsüchtiger oder brutaler als heute.

d) Ebenfalls übersieht man leicht, dass Gott im AT (wie überhaupt) auch ein sehr geduldiger Gott ist. Es braucht in vielen Fällen sehr lange, bis er ein angedrohtes Urteil auch wirklich vollstreckt. Diese Geduld ist auch eine Form von Gnade, denn er gibt den Menschen noch die Möglichkeit, Busse zu tun, sich zu ändern. Zwei Beispiele: Noah brauchte 120 Jahre, um seine Arche zu bauen. Während dieser ganzen Zeit predigte er den Menschen, sie sollten umkehren von ihrem gottlosen Lebenswandel, doch sie taten es nicht. Erst nach dieser Schonfrist kam die Sintflut. In 5.Mose 25,17-19 kündigt Gott die Bestrafung der Amalekiter an, die das Volk Israel beim Auszug aus Ägypten rücklings überfallen hatten. Erst in 1.Sam.15,3 (rund 400 Jahre später) lesen wir davon, dass Gott Saul den Befehl gab, dieses Volk jetzt dafür zu bestrafen. Sie hatten offensichtlich ihre Einstellung gegenüber Israel nicht geändert und die Strafe verdient. Gott ist ein geduldiger Gott, der auf die Umkehr der Gottlosen wartet bis das Mass ihrer Schuld wirklich so übervoll ist, dass er mit der Strafe nicht mehr länger zuwarten kann.

e) Straft Gott, dann deshalb, weil die Betreffenden in einer ganz extremen Weise gegen seine Gebote verstossen haben (und dazu noch für die gläubigen Menschen ihrer Umgebung eine ständige Verführungsgefahr sind). Dies ist etwa der Fall beim Untergang Sodoms und Gomorras. Wenn es nur 10 Gerechte in diesen Städten gegeben hätte, hätte sie Gott verschont (1.Mose 18-19). Oder es ist der Fall beim Todesurteil über Achan (Josua 7: Achan lässt bei der Eroberung Jerichos von dessen Reichtümern etwas mitlaufen, obwohl Gott ausdrücklich verboten hatte, etwas mitzunehmen, weil Israel lediglich der Vollstrecker eines Gerichtsurteils Gottes war, und sich deshalb nicht selber bereichern durfte). Einen solchen Extremfall haben wir auch im Urteil über Hananias und Saphira im NT (Apg.5).

f) Eine solche Strafaktion kann ausserdem auch ein Hinweis auf das Jüngste Gericht sein, das der gerechte Gott einmal durchführen wird (das Gericht am Ende der Zeit, das über die endgültige Bestrafung in der Hölle oder die ewige Rettung im Himmel entscheidet; Offbg.20,11-15), und somit eine Warnung an alle Lebenden, zu Gott umzukehren, damit sie nicht auch dem gerechten Urteil Gottes verfallen.

H) Sehr zu beachten ist ausserdem auch noch, dass die wohl schärfsten und deutlichsten Gerichtsandrohungen nicht im AT zu finden sind, sondern in den Reden Jesu etwa über die Endzeit (Mt.24-25) oder gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten (Mt.23) und bei anderen Gelegenheiten (z.B. Mt.11,20-24).

Zusammenfassend kann also gesagt werden: Gott verändert sich nicht. Sein Charakter bleibt immer gleich. Auch sein Umgang mit uns Menschen bleibt im Prinzip von der Schöpfung bis zum Weltuntergang und der Neuschöpfung der gleiche. Wenn er strafend eingreifen muss, dann nur der jeweiligen Situation entsprechend (und nicht, weil der betreffende Mensch gerade in dieser oder jener Zeitepoche lebt). Gott ist ein Gott der Liebe, der die Menschen so sehr liebt, dass er seinen Sohn sterben lässt, um sie zu retten aus der Verdammnis, die sie sich selber zuzuschreiben haben. Er ist ein Gott der Gnade und Geduld. Aber er ist auch ein heiliger Gott der Gerechtigkeit, der die Sünde zutiefst hasst und die Sünde in den Menschen deshalb von Zeit zu Zeit bestrafen muss, wenn das Mass voll ist. Dies geschieht in besonders extremen Fällen schon zu Lebzeiten eines Menschen oder eines Volkes, auf jeden Fall aber endgültig am Ende der Zeit im Jüngsten Gericht. Zwischen der Zeit des AT, des NT und heute gibt es keine wesentlichen Unterschiede im Charakter und im Verhalten Gottes. Gott ist ein durch alle Zeiten hindurch gleichzeitig liebender, gnädiger, geduldiger und die Sünde bestrafender Gott.


© bei Pfr. Marcel Wildi, Heldaustr.16, CH-9470 Buchs;
Nichtkommerzielle Weitergabe unter Wahrung von Inhalt und Autorenangabe gerne erlaubt.


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